Da sitzt man abends in seinem neu erworbenem Eigenheim auf dem Land, das Feuer lodert im Kamin, die Katze reckt sich neben einem auf dem Sofa und man schaut in Ruhe, welche Filme auf dem Festplattenreceiver noch zur Verfügung stehen. Dann entscheidet man sich für einen Film über einen jungen Mann, der mitten in Berlin eine kleine Sinnkrise durchmacht, ohne Geld, ohne Plan, ohne Kaffee. Und fragt sich, ob man da überhaupt mitreden kann. Ob man seine Sorgen nachvollziehen kann. Oder ob man ähnliches erlebt haben muss, um sich mit ihm zu identifizieren. Ob man ein Stadtkind sein muss. Und was soll ich sagen: Da sind die Sorgen relativ unbegründet. Der Weg ist das Ziel, die Vergangenheit eher nebensächlich, und solche Gedanken wie dieser junge Mann hat sich wohl schon jeder in ähnlicher Form in dem Alter gemacht. Aber noch viel mehr ist es sowieso ein Film über Berlin.
Niko Fischer ist (vermutlich) Ende zwanzig und lebt in Berlin. Seitdem er sein Studium abgebrochen hat, lebt er in den Tag hinein und fragt sich, wo das alles hin führt, wo er hin will im Leben. Der Film begleitet ihn dabei einen Tag lang auf seiner ziellosen Odyssee durch die Stadt, auf der Suche nach Kaffee, bei den Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen.
Und so geht es weniger um Niko als vielmehr um Berlin und die Menschen, die dort leben. Der Film ist eine poetische Reise durch diese Stadt, eingefangen in wunderschönen monochromen Bildern mit einem teils humorvollen, teils nachdenklichen Blick auf Nikos Zufallsbegegnungen und ihre Geschichten. Denn jeder Mensch hat seine Geschichte, und auch wenn Niko diesen anfangs abweisend und desinteressiert gegenübersteht, fühlt er am Ende doch mit ihnen. Vom kleinen Szene-Café über die Dreharbeiten eines Films, welchen man „typisch deutsch“ nennen würde (Zweiter Weltkrieg, aber auch mit Liebe und: Wahre Begebenheit!) bis hin zum abstrakten Theater (welches mich im Übrigen sehr an eine Folge HIMYM erinnert hat…), von den einsamen, verzweifelten Nachbarn in anonymen Mietwohnungen bis hin zur freundlichen Oma, deren Enkel Sneaker und Drogen vertickt: So unterschiedlich die Menschen in Berlin (aber wohl auch in jeder anderen Stadt), so unterschiedlich auch Nikos Begegnungen.
Der deutsche Film besteht nur aus dem – wie nannte Flo es doch gleich – „Triumvirat des Schreckens*“? Weit gefehlt, denn hier ist der Beweis, dass es Hoffnung gibt. „Oh Boy“ ist ein wundervoller, nachdenklicher Film mit stimmungsvoller Musik und poetischen Bildern aus der Hauptstadt. Jan Ole Gerster gelingt es dabei vollkommen ohne die typischen Berlin-Klischees auszukommen, Tom Schilling zeigt seinen Charakter orientierungslos, teilweise distanziert anderen Menschen gegenüber, aber auch mitfühlend. Selten habe ich einer Filmfigur so sehr ihren Kaffee gegönnt.
* Leider kann ich dieses Zitat nicht belegen, da ich grad nicht weiß, in welchem Zusammenhang das mal gefallen ist. Aber gemeint waren glaube ich Schweiger, Schweighöfer und Herbig.
P.S.: Zur Zeit ist der Film auf Blu Ray auch gar nicht mal so teuer – von daher von meiner Seite aus eine klare Kaufempfehlung. Mein Exemplar ist auch schon unterwegs.
Der erste Satz macht mich so neidisch. Unfassbar. Anyway. Von „Oh Boy“ habe ich bisher auch nur Gutes gehört und auch bei mir wartet der Film noch darauf gesehen zu werden. Vielleicht 2015.
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Das war natürlich nicht meine Absicht. Also auf den Film neugierig zu machen, das schon! Es lohnt sich.
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Ich hatte auch zuerst Bedenken, dass das so was Arthousiges wird, aber mir hat er dann auch richtig gut gefallen. Schön, dass man anscheinend nicht aus Berlin stammen muss, um den Film zu verstehen. 🙂
Allerdings:
„Jan Ole Gerster gelingt es dabei vollkommen ohne die typischen Berlin-Klischees auszukommen“
Gerade bei der Darstellung der Servicekräfte (Bistro, Restaurant) schmeißt er ja nur so mit Klischees um sich. Wobei auch nicht von der Hand zu weisen, ist, dass man sie hier vermehrt antrifft. 😀
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Naja, bei der Bedienung mit dem Kaffee, das war schon so gewollt, stimmt. Und im White Trash sprechen die halt englisch, das gehört so.
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Ich schrieb ja nicht, dass das deutsche Kino nur aus dem Triumvirat des Schreckens besteht, sondern implizierte bei meiner Erwähnung, dass „Fack Ju Göhte“ 2013 Box Office Hit in Germany war, dass wenn ein deutscher Film am Ende des Kinojahres auf Platz 1 in Deutschland landet, es sich meist um ein Werk des besagten Triumvirats handelt (Quelle).
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So meinte ich das auch nicht – ich wollte nur die Bezeichnung zitieren und ich wollte nicht ausdrücken, dass Du mal sagtest, das deutsche Kino besteht nur aus denen. War wohl missverständlich. Fand nur wie gesagt die Bezeichnung so toll 😉
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