Kritik: Stieg Larsson – VERBLENDUNG [Buch / Film 2009]


Wenn von einer Roman-Trilogie weltweit über 31 Millionen Exemplare verkauft werden, die Trilogie auch im Kino ein riesiger Erfolg wird und diese schon zwei Jahre später eine Hollywood-Neuverfilmung nach sich zieht, sollte man ja meinen, dass da irgendwas dran ist. Dass Stieg Larsson mit seiner Millenium-Trilogie den Massengeschmack gefunden hat, dass die Thematik hochaktuell ist. Alles Gründe, warum ich mich jetzt auch mal, wenn auch spät, mit dem Thema (zumindest mit der Trilogie erster Teil) befasst habe, in völliger vorheriger Unkenntnis worum es überhaupt geht. Aber der Trailer der US-Version wirkte auf jeden Fall interessant genug, um spätestens jetzt mein Interesse zu wecken. Und was soll ich sagen? Ich weiß zwar nicht, was ich erwartet habe, aber auf jeden Fall etwas anderes, was aber nicht heißen soll, dass ich enttäuscht wurde. Aber die Gefahr, bei so einer dreifach Dosis verblendet zu werden, besteht mit Sicherheit…

Darum gehts:

Mikael Blomkvist ist leitender Redakteur der Zeitschrift „Millenium“. Als er einen Artikel über den Großindustriellen Wennerström veröffentlicht, ohne seine Quellen ausreichend zu belegen, wird er wegen Verleumdung angeklagt und zieht sich aus der Redaktion zurück. Da bietet ihm der ehemalige Industrielle Henrik Vanger ein Geschäft an: Blomkvist soll für ihn eine Familienchronik schreiben – und ganz nebenbei das Verschwinden seiner Nichte Harriet vor 35 Jahren aufklären. Mikael willigt ein – auch, um vorerst aus der Schusslinie der Medien zu geraten, um „Millenium“ nicht noch weiter zu schaden. Doch was er herausfindet, hat er in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet…


Stieg Larsson: VERBLENDUNG
(OT: „Män som hatar kvinnor“)

Dubiose Wirtschaftsjournalisten, kriminelle Industrielle und sexueller Missbrauch Schutzbefohlener, Schweden-Nazis und Serienmörder: Harter Tobak in einem Buch, welches eigentlich recht bedächtigt beginnt und sich folglich viel Zeit nimmt. Es dauert lange, bis die Geschichte Fahrt aufnimmt, doch dabei schafft es Larsson, keine Langeweile aufkommen zu lassen. Denn auch wenn es zunächst an Action fehlt – die Geschichte ist auch so spannend, alleine schon weil die Großfamilie Vanger so einige Leichen im Keller zu haben scheint und man durchaus wissen will, was mit Harriet geschah. Insofern hätte es alles andere (inkl. der ein oder anderen Brutalität) nicht zwingend gebraucht. Ich hatte schon etwas den Eindruck, dass Stieg Larsson hier möglichst viel in das Buch packen wollte, um dem Leser gegen Ende hin möglichst viel zu bieten, aus Angst, man könnte enttäuscht werden. Versteht mich nicht falsch – die Geschichte ist durchaus stimmig und so wie ist ist wie ich finde auch schockierend, doch hätte ich das Buch auch ohne diesen erschreckenden Verlauf der Geschichte gut gefunden.

Ansonsten: Es wird viel geraucht, es wird viel Kaffee gekocht, getrunken und aufgewärmt, es werden viele Schnittchen gegessen und es wird das ein oder andere Mal geduscht. Löblich, dass sich Larsson auch an den kleinen Dingen erfreut, doch zeitweise wurde in dem Buch so oft Kaffee getrunken, dass selbst Blomkvist zu dem Gedanken kommt, dass er in letzter Zeit erstaunlich viel Kaffee getrunken hat. Das hatte so ein bisschen was von der Stromberg-Folge, in der eben dieser einen Becher Milchreis in die Kamera hält und meint, er könnte ja auch Schleichwerbung machen, wobei er das ja schon die ganze Zeit tat… oder um es anders zu formulieren: Vielleicht liegt es an der Übersetzung, doch stilistisch hat mir „Verblendung“ nicht immer gefallen.

Die Geschichte an sich jedoch schon, so dass ich das Buch zeitweise nicht aus der Hand legen konnte, weil ich wissen wollte/musste, wie es weitergeht – der Absatz, die Seite, das Kapitel eben noch… und so kommt es, dass die gut 700 Seiten im Nu vorbei waren. „Verblendung“ lässt sich gut in einem Rutsch „weglesen“ und ist dabei keine anspruchsvolle Literatur – muss ja auch nicht. Larsson ist ein kurzweiliger Schwedenkrimi gelungen, nach dem man eigentlich sofort mit „Verdammnis“ weiterlesen möchte.

VERBLENDUNG – Directors Cut [2009]
(OT: „Män som hatar kvinnor“)

Ich hab da ja zwei Theorien. Entweder, in Skandinavien weiß man nicht, wie man schlechte Filme dreht. Oder aber: Nur die guten Filme schaffen es irgendwie, von mir gesehen zu werden, eine Art natürliche Selektion. Denn bisher war jeder Film von da oben den ich gesehen habe auf seine Art gut. Das waren vielleicht nicht genug, um als repräsentativ zu gelten, für einen guten Schnitt reicht es jedoch allemal aus. Nun also „Verblendung“, kurz nach der Lektüre des Buches. Ob das eine so gute Idee ist, sei einmal dahingestellt. Auf jeden Fall konnte ich in der Zeit zwischen Buch und Film nicht schon die Hälfte vergessen. Was andererseits besser wäre, wenn man sich „überraschen“ lassen will. Hm. Ein Teufelskreis.

Und was soll ich sagen, vielleicht liegt es an der zeitlichen Nähe zur Lektüre des Buches, vielleicht an der Tatsache, dass der Film angeblich erst nur fürs Fernsehen war – denn trotz der atmosphärisch gelungenen Inszenierung fehlte mir irgendwie der „Wow“-Effekt. Die charakterliche Ausarbeitung der Protagonisten ist in meinen Augen nicht wirklich gut geglückt. Natürlich, die Leute tun und sagen zum Großteil das, was sie auch im Buch tun und sagen, aber es sind die Feinheiten, die irgendwie gestört haben, ganz besonders bei Mikael, wirkt er im Film doch eigentlich durchgehend wie ein unsympathischer Mann mittleren Alters, mit dem – aus welchen Gründen auch immer – alle Frauen in dem Film Sex haben wollen, besonders der „Versuch“ von Cecilia wirkt fast schon lächerlich. Buchvorlage hin oder her, ich kann mir nicht vorstellen, dass dies für Neulinge des Stoffes eindeutig war, wie das kommt, und warum vor allem Lisbeth das tut, was sie dann letztendlich tut. Dafür war er einfach zu flach angelegt (also, der Charakter, nicht sein Bauch, der ist ausgeprägt).

Besonders wenn ein Buch nur langsam Fahrt aufnimmt ist es für einen Film schwer, während dieser Zeit die Spannung zu erhalten. „Verblendung“ gelingt dies eigentlich relativ gut (trotz seiner drei Stunden Laufzeit), Gott sei Dank wurde hier nicht versucht, auf Teufel komm raus mehr Action reinzubringen, als die Vorlage hergibt. Und obwohl die Geschichte schon sehr gestrafft wurde, manche Teile leicht verändert (und somit vereinfacht wurden), fehlt dem Film etwas. Das Buch würde sich idealerweise für eine Miniserie eignen, statt einen ZDF-Zweiteiler hätte ich mir lieber einen BBC-Sechsteiler gewünscht. Nicht falsch verstehen: „Verblendung“ ist durchaus spannend, das Finale erschreckend und die Schauspieler sind sehr passend. Doch irgendwas fehlt. Und das tatsächliche Ende (nach dem „Showdown“) nehme ich dem Film doch sehr übel. Aufgrund der vorgenommenen Änderungen in der Handlung wahr sehr früh klar, dass dieses anders ausfallen würde, doch dieses schnelle Abspulen von Ereignissen hat doch sehr enttäuscht. Das Buch ist mehr Mikael und Lisbeth, der Film ist mehr Standard-Krimi mit Schwerpunkt auf die Verbrechen – ich hätte es mir wohl mehr anders gewünscht.

[SPOILER] Was mich jedoch am meisten stört, sind filmisch nur ein paar Minuten, in der Aussage aber das komplette Buch. Zum einen „darf“ Mikael am Ende tatsächlich die Polizei rufen. Hört sich jetzt trivial an, aber wer das Buch kennt, weiß welche Gewissenskonflikte er austragen muss, gerade weil er es eigentlich NICHT tut, sondern die Entscheidung der Familie Vanger überlässt. Zum anderen: Martin verunfallt tatsächlich und wird von Lisbeth nicht gerettet, wodurch sie ihn praktisch umgebracht hat. Im Film wählt Martin den Freitod, indem er bewusst auf die Gegenfahrbahn fährt. Jetzt weiß ich nicht, wie Lisbeth sich verhalten hätte, wenn sie ihn aufgehalten hätte und nicht der LKW. Aber genau das ist der Punkt. [/SPOILER]

Ein Film ist ein Film und ein Buch ist ein Buch. Man sollte also bei der Bewertung des Films diesen einzeln betrachten. Das ist nicht einfach, erst recht nicht, wenn man das Buch gerade mal einen Tag vorher beendet hat. Und doch funktioniert „Verblendung“ als eigenständiges Werk, baut die Spannung langsam auf und lässt den Charakteren (so, wie sie im Film dargestellt sind…) ihren Raum. Abzüge muss es aber zum einen geben, weil es so viel mehr hätte sein können – und für das hingerotzte Ende.

12 Kommentare

  1. bullion · Januar 12, 2012

    Ja, kann man durchaus so stehen lassen. Ich sehe sowohl das erste Buch als auch den ersten Film einen Tick besser. Wirst du den Fincher-Film sehen? Ich bin noch unschlüssig.

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    • Xander · Januar 12, 2012

      Ja, Samstag. 20.15 Uhr.

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  2. tinteimblut · Januar 12, 2012

    Bei der Filmkritik kann ich dir nur zustimmen. Mich hat am meisten genervt, wie wenig die Charaktere und ihre seelischen Hinter- oder auch Abgründe ausgearbeitet werden…

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    • Xander · Januar 12, 2012

      Sie waren halt da und haben einen Fall gelöst. Mehr leider nicht…

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  3. donpozuelo · Januar 13, 2012

    Kommt das wirklich so rüber, dass Martin den Freitod wählt? Ich hatte mehr so das Gefühl, dass er wegen der Verfolgung durch Lisbeth von der Spur abkommt.

    Mich hat der Film auf jeden Fall überzeugt. Komischerweise aber nicht so sehr, um mir jetzt im Nachhinein noch die Bücher durchzulesen 😉

    Und: Ich gehe auch Samstag zum US-Remake 😉

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    • Xander · Januar 13, 2012

      Ich guck bei Gelegenheit noch mal ins Buch.
      Und wünsche uns am Samstag viel Spaß!

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    • Xander · Januar 13, 2012

      SPOILER
      Ja. Sinngemäß steht da sowas wie „Lisbeth sah den LKW kommen. Martin Vanger auch. Er erhöhte das Tempo und wechselte auf die Gegenfahrbahn“
      Klingt für mich relativ eindeutig.

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  5. Dr. Borstel · Januar 18, 2012

    Ich würde beide einen Tick besser sehen, wobei du gerade im Bezug auf das Buch recht hast: Stilistisch ist das nichts besonders, und ich würde sogar so weit gehen, die Übersetzung als ziemlichen Schmarrn abzukanzeln. Seltsamerweise bleibt „Verblendung“ trotzdem, auch trotz der Länge und der relativen langsamkeit der handlung ein unheimlicher Pageturner, was für Larssons riesiges Talent als Geschichtenerzähler (wenn auch nicht als Schriftsteller) spricht. Schade, dass er so früh abgetreten ist …

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    • Xander · Januar 18, 2012

      Hast du denn das Buch im Original gelesen? Da ich nirgendwo nähere Infos dazu gefunden habe (bzw. auch nicht gesucht habe), würde ich jetzt nicht pauschal die Übersetzung verteufeln und als „Schmarrn“ bezeichnen, darum auch das „vielleicht“ im Text. Im Original beschränkt sich die Getränkeauswahl vermutlich auch nur auf Kaffee 😉

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  6. kulii · Juni 10, 2012

    Es ist wohl immer so das man vom Film ein klein wenig enttäuscht ist, wenn man das Buch schon kann. Und dass es keinen WOW-Moment gibt ist ja klar, mann kennt die Handlung ja schon. Trotzdem versuche ich das ganze immer auszublenden und an den Film relativ objektiv ran zu gehen. Und ich denke, wenn man vom Buch her nicht weiß, was für ein Team L & M eigentlich bilden, ist man allein von der Story her schon hingerissen. Und das macht glaube ich auch den Erfolg der Filmes aus. Ich denke es ist auch ziemlich schwer, alle Intentionen, vor allem was L & M betrifft, in den Film mit einzubringen, und vor allem am Ende mussten sie sich ziemlich beeilen, was einem der das Buch nicht kennt natürlich nicht auffällt.
    Was Larssons Schreibstil angeht, ist das halt so ne Sache. Jeder Autor hat was besonderes in seiner Schreibart. Und bei Larsson liest man halt ganz genau raus, dass er eher schreib wie ein Journalist und nicht wie ein typischer Krimiautor, was mir eigentlich ziemlich gut gefallen hat.

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